Montag, 18. Januar 2010

VERVE

Das Jazzlabel VERVE gratuliert sich zum 50sten Geburtstag.

Den Schreibern und Fotographen - meist gleichermaßen Kritiker, Fans und Literaten, die dicke Wälzer, Taschenbücher oder Fotobände über die improvisierte Musik dieses Jahrhunderts veröffentlicht haben, muß heute eine Unterlassungssünde angelastet werden: Die Rolle der Plattenfirmen, der Produzenten und der Vertriebsfirmen dieses Mischlings, der immer noch Jazz genannt wird, wurde zu wenig oder gar nicht beleuchtet.

Dabei ist der Jazz, dessen Hauptunterscheidungsmerkmal gegenüber der klassischen Musik die Spontanität und die Kommunikation mit Mitmusikern, Publikum und Räumen ist, ohne die Möglichkeit zur Dokumentation auf Walzen, Matrizen, Wachs,Acetaten, Schallfolien und -platten und heute auf CD oder DAT undenkbar. Niemand weiß, wie sich die archaische Musik, die Ende des letzen und zu Anfang dieses Jahrhunderts an vielen Orten der alten und neuen Welt entstand, weiterentwickelt hätte, wenn nicht RCA/Victor, Okeh, Brunswick oder Vocalion mit der Produktion von zuerst weißen, später auch schwarzen Bands, Millionen verdient hätten. Damit verbesserten sie im bescheidenen Maße auch die Lebensbedingungen der Musiker. Wichtiger war aber die Veränderung, die die Musik durchmachte: Einfach und banal zuerst einmal dadurch, daß ein Titel nur 2-3 Minuten dauern durfte: länger liefen die Schellacks nicht. Thema, kurze Improvisationen von 1 oder 2 Solisten, Reprise, Ende. Lediglich Radiomitschnitte, deren Bedeutung für den Bekanntheitsgrad der Orchesters gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann und Live-Auftritte konnten Vitalität, Einfallsreichtum und technisches Können der Instrumentalisten und Sänger und Sängerinnen vermitteln.

Daran knüpfte 1944 Norman Granz an. Der damals 26-jährige, aus Los Angeles stammende Jazzfan, hatte einen ausgeprägten Geschäftssinn, der sich mit dem Wunsch, rassistische Vorurteile gegenüber schwarzen Musikern abbauen zu helfen, verband. Clubkonzerte und Plattenproduktionen für kleine Label hatte er schon organisiert, aber sein Traum war: Wenn 200 Leute in einen Club kommen, warum sollen da nicht 2000 Jazzfans eine Philharmonic Hall füllen? Unter dem Titel JATP (Jazz at the Philharmonic) wurde das erste Konzert - übrigens ein Benefiz-Konzert für mexikanische Jugendliche ein voller Erfolg. Es gab schon Vorläufer von dieser Idee: das Carnegie Hall von Benny Goodman 1938 und die Konzerte „From Spirituals to Swing“ aus dem gleichen Jahr und von 1939, aber als Veranstaltungsreihe sollte sich allein JATP bis Ende der 70-ger Jahre bewähren - auch bei Tourneen in Europa.

Die gutetechnische Qualität der Tonaufnahmen der Konzerte, die von der AFRS (Armed Forces Radio Service) mitgeschnitten wurden, und der Einfallreichtum der Musiker bei den Jam-Sessions, brachten Norman Granz auf die Idee, das kleine Label „Disc“ zu gründen. Hier wurden die ersten Live-Mitschnitte von Illinois Jacquet, Nat King Cole und Les Paul veröffentlicht. Als fast 10 Jahre später die ersten Langspielplatten (zuerst noch im 25 cm Format) erschienen, war Granz mit seinem neuen Label „Clef“, ein Unterlabel von Mercury, und seinen eigenen Labeln „Down Home“ und „Norgran“ einer der ersten, sicher aber der erfolgreichste Produzent dieser neuen Technik, die es erlaubte, bis zu 15 bzw.20 Minuten ohne Unterbrechung zu Gehör zu bringen.

Unter den Musikern, die Granz durch gut dotierte Verträge und lange Konzerttourneen an sich zu binden, waren Oscar Peterson, Art Tatum, Roy Eldridge und Coleman Hawkins. Meist stammten sie aus dem Kreis des etablierten Swing, aber auch Anfang der 5o-iger für das Gros des Publikums immer noch neutönerisch klingende Be-Bopper (Thelonious Monk, Bud Powell, Dizzy Gillespie und Charlie Parker) waren mit vielen Produktionen vertreten.

Den Sängerinnen galt schon immer die besondere Vorliege von Norman Granz. Billie Holiday, Anita O’Day waren kommerziell außerordentlich erfolgreich wärend der Zeit mit „Verve“. Diesen neuen gemeinsamen Namen bekam das Label, als Ella Fitzerald, die vorher bei Decca unter Vertrag stand, verpflichtet werden konnte.Gleich Ella’s erste Produktion für Verve wurde ein Bestseller und ist bis heute im Programm: „Ella Fitzgerald sings the Cole Porter Song Book.

Cabaret, Lyrik und Pop bekamen eigene Sparten bei Verve und halfen durch hohe Verkaufszahlen mit, immer aufwendiger werdene Plattensitzungen mit Streichern zu finanzieren. Charlie Parker, Johnny Hodges und Ben Webster konnten sich so den Traum vieler Jazz-Musiker erfüllen und über einem klassischen Klangteppich improvisieren.

Ende 1960 verkaufte Granz die Firma an MGM, eine der großen Filmfirmen in den USA. Die neuen Eigentümer verpflichteten mit Creed Taylor als neuen Produzenten einen Mann des großorchestralen Klangs, der sich aber zeitgemässen Synthesizer-Klängen nicht verschloß. Bill Evans, Jimmy Smith, Cal Tjader und Stan Getz, der mit „Getz/Gilbert“ und dem Hit „The Girl from Ipanema“ 1964 gleich 4 Grammies einheimste, waren die Newcomer im Verve-Jazz-Stall. Pop und Folk wurden gleichermaßen aufgenommen, so waren Frank Zappa, Velvet Underground neben Blues Project und Ricky Nelon zwischen 1968 und 1972 unter Vertrag.

1972 kehrte Granz zum Label zurück: Er gründete ein neues Sub-Label und nannte es Pablo. Mit gleicher Konzeption und ausgefeilter Studio- und Live-Technik (auch digital) wuchs sein Katalog in den nächsten Jahren auf 350 Platten an. Viele erhielten hohe Kritikerauszeichnungen. 1972 verkaufte MGM ihr bestes Jazzlabel an die Polygram. Neben der Veröffentlichung von Original-Platten, meist auf CD’s mit zusätzlichen, bisher unveröffentlichen Titeln, aber mit Verve-Covern, wurden ganze Sets von 6 oder mehr CD’s auf den Markt geworfen: Die Tonarchive wurden weltweit durchsucht und als Ergebnis dieser Recherchen können die Jazzfans je nach Gusto „The Complete Charlie Parker on Verve“, „The Complete Billie Holiday on Verve“ und Ella’s „Complete Song Book Sessions“ auf CD genießen.

Allerdings muß ich zugeben: die alten Verve Pressungen der Serie MG V-8000 und auch die japanischen Pressungen, die mit neuem Vinyl gepreßt wurden, klingen kompakter als jede Compact-disk! . „Porgy and Bess“ mit Ella und Louis Armstrong ist immer noch ein wahres Klangwunder, wenn man die Enstehungszeit 1957berücksichtigt. Deutsche Pressungen sind etwas hallig, die französischen für meinen Geschmack zu hochtönerisch abgemischt.Warnen sollte man in dieser Hinsicht vor den elektronisch aufbereiteten Nachpressungen der 70-ger Jahre, die man nur kaufen sollten, wenn anders die Musik nicht oder nicht mehr zu bekommen ist. (Kleiner Einschub über den Verkaufswert von Verve-Jazz-LP’s? Hier meine persönlichen Erfahrungen als Sammler: Originale Norgran: 150-200DM; Verve MG V-8000 Serie: 80-120DM; japanische Verve 50-70 DM; deutsche Verve 40-60 DM, Nachpressungen zwischen 15 und 25 DM.)

Die neuere Veröffentlichungspolitk der Firma Polygram, die den Geburtstag ihres erfolgreichen Jazzlabels mit einem Konzert in der Carnegie Hall feierte, beinhaltet 4 Schienen: Zusammenstellungen ihrer Stars (Compilations, Best of etc.) für den oder die Einsteiger/Innen; CD’s - manchmal mit zusätzlichen Titeln - mit alten Originalcovern, (meist von David Stone Martin gezeichnet); Mehrfach-Compact-Disc-Boxen (gerade ist „The Complete Bud Powell on Verve“ mit 43 unveröffentlichten Titeln erschienen) und zum Glück vergißt man Neuproduktionen mit etablierten und frischen Talenten nicht. Sie nehmen mittlerweise einen großen Raum im Katalog ein. Namen wie Randy Weston, Abbey Lincoln, Betty Carter, Joe Henderson und die, die noch zu entdecken sind (Roy Hargrove, Rodney Kendrick, Lucky Peterson) sollen stellvertretend genannt werden.

Zu hoffen ist,daß Verve mit seinen kommerziell erfolgreicheren, gleichzeitig aber durchaus oftmals sehr anspruchsvollen Produkten auch in den nächsten Jahren den Jazz am Leben halten wird. Wir Fans und Sammlerfreaks erwarten auch, daß die LP-Produktion wiederbelebt wird: Entweder unter dem alten Namen vom großen Konzern oder von irgendeinem kleinen Label, das Liebhaber-180gr-Raritäten, teuer und limitiert anbietet.

Michael Frohne
(Der Artikel erschien in verschiedenen Zeitschriften der 1990'iger Jahre. Inzwischen ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen: Die Firma Speakers Corner hat vieles aus dem Katalog neu in 180 gr Vinyl gepresst. Leider sind viele schon wieder ausverkauft, aber es bleibt die Hoffnung dass sich der Medienriese Universal (oder Polygram oder Sony - wie immer er jetzt gerade heißt) die Verkaufssteigerungsraten zu Herzen nimmt und Wiederveröffentlichungen nicht nur plant sondern auch veröffentlicht. Plattenpresswerke scheint es ja wieder zu geben. Kapazitäten sind dort aber leider rar. Macht aber den Fans Heißhunger nach mehr.)

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