LIL HARDIN-ARMSTRONG
Vor siebenundzwanzig Jahren, am 27. August 1971, starb Lil Hardin-Armstrong während eines Auftritts bei einem Louis Armstrong Gedächtnis-Konzert in New York auf offener Bühne an einem Herzschlag. Sie war 68 Jahre alt.
Ihr genauer Geburtstag allerdings steht nicht fest. Entweder schwieg sich Lil bewußt darüber aus oder sie wußte ihn tatsächlich selbst nicht. Normalerweise müßten aber doch an irgendeinem Datum die in den USA auch in Künstlerkreisen so beliebten Geburtstagsfeiern stattgefunden haben. Doch selbst der "allwissende" John Chilton bleibt im Ungefähren, wenn er in seinem Buch "Who's who of Jazz" unter Hardin-Armstrong recht vage angibt: born Memphis, Tennessee, c. 1900. Bei Leonard Feather heißt es in der Encyclopedia of Jazz unter Armstrong, Lilian Hardin (Lil): b. Memphis, Tenn., 1903. Jedenfalls dürften Lils Eltern nicht zu den ärmsten schwarzen Amerikanern gehört haben, konnten sie ihre Tochter doch zur Aufnahme eines Musikstudiums auf die bekannte Fisk. University in Nashville, Tenn., schicken. Es war ihr Wunsch, daß aus der talentierten Lil einmal eine renommierte Konzertpianistin wird.
1918 zogen die Hardins nach Chicago und Lil führte in Jones' Music Store, einem Geschäft für Instrumente und Notenmaterial, die neuesten Songs und Schlager vor. Bald interessierte sie die leichte Muse mehr als das, was sie an und über Klassik gelernt hatte, und durch ihren Kontakt mlt Musikern bekam sie schließlich Gelegenheit, als Pianistin in schwarze Bands einzusteigen. So spielte sie bei Curtis Mosby und auch bei Freddie Keppard, der damals geerade aus New Orleans gekommen war, in Chicago die Jazz Cardininals zusammenstellte, damit aber zunächst keine Platten aufzunehmen wagte", weil er Angst hatte, man könne ihm damit seine Ideen stehlen. 1920 konnte Lil dann für ein Engagement im Dreamland eine eigene kleine Band aufstellen, nahm aber wenig später das verlockende Angebot des gefeierten Joe King Oliver an, als Pianistin in seine Creole Jazz Band einzutreten. Dort lernte sie Louis Armstrong kennen und lieben, der neben Oliver zweites Kornett blies und dessen Frau sie später - am 5. Februar 1924 wurde. Im gleichen Jahr 1924 aber verließen Louis und Lil die Creole Jazz Band King Olivers, die damit auseinanderfiel. Lil stellte in Chicago eine eigene Band auf, Louis dagegen folgte im November einem Ruf Fletcher Hendersons nach New York und blieb ein Jahr lang in dessen Orchester.
Dann kamen Louis und Lil wieder zusammen: Satchmo trat in Lil Armstrongs Dreamland Syncopators ein und im November kam es zu den ersten Aufnahmen jener Gruppen, die von 1925 bis 1927 für die markantesten Jazzdokumente der Golden Jazz Era sorgten: der Hot Five und Hot Seven. Die Platten erschienen bei Okeh unter Louis Armstrongs Namen, bei Brunswick unter "Lil's Hot Shots" (Hot Five Besetzung). Mit Louis und Lil spielten Kid Ory, Posaune, Johnny Dodds, Klarinette und John St. Cyr, Banjo. Bei der Hot Seven kamen noch der Tubaspieler Pete Briggs und der Schlagzeuger Babe Dodds der jüngere Bruder von Johnny dazu. Es wird immer wieder vergessen, daß es slch dabei aber nur um Studiogruppen handelt, die nur sporadisch für Plattenproduktionen gebildet wurden, fest verpflichtet war Louis Armstrong seinerzeit in Erskine Tate's Vondome Orchestra und in der Band von Carroll Dickerson, wogegen Lil eigene Gruppen leitete oder in Hugh Swift's Danceband arbeitete. 1928 war Lil Armstrong mit Freddie Keppard unterwegs, studierte aber im gleichen Jahr auch am Chicago College of Music, wo sie dann ihr Diplom erhielt.
Auch in den 30er Jahren leitete Lil wieder verschiedene Bands und Gruppen, darunter auch eine "Damenkapelle". Hervorzuheben ist ihre Swing Band aus dem Jahre 1936 mit dem Trompeter Joe Thomas, dem Klarinettisten Buster Bailey und dem Tenorsaxophonisten Chu Berry, in der Tony Cole am Klavier saß und Lil sich als Sängerin produzierte. Es war eine jener Plattenbands, mit der sie in Chicago und ab 1937 in New York ins Studio ging. Als Pianistin leitete LII 1938 eine Studioband mit dem Trompeter Reunald Jones, dem Posaunisten J. C. Higginbotham, dem Klarinettisten Buster Balley sowie Wellman Braud und O'Neil Spencer an Bass und Schlagzeug. 1940 gehörten Jonah Jones, Trompete, Don Stovall, Alt-, Russell Johns, Tenor-Saxophon, Wellman Braud und Schlagzeuger Manzie Johnson zu ihrer Gruppe, die unter dem Namen Lil Armstrong and her Dixielanders Aufnahmen machte. Von ihrem Mann Louis Armstrong hatte Lil schon seit 1931 getrennt gelebt, 1938 wurde die Ehe dann geschieden und Satchmo heiratete wenig später Alpha Smith in Houston. Lil trat in den folgenden Jahren In Rundfunk- und Fernsehprogrammen auf, spielte in den verschiedensten Bands, machte 1940 Aufnahmen mit Henry Red Allen und Zutty Singleton, begleitete den Gitarristen und Sänger Lonnie Johnson, produzierte unter eigenem Namen mit sogenannten All Stars - 1945 wieder mit Jonah Jones, Higginbotham und Babe Dodds - wirkte in Revuen wie "Hot Chocolate" und "Shuffling Along" mit, komponierte und arrangierte für Künstler der Plattenmarke DECCA, bei der sie auch als Hauspianistin fungierte. In den 60er Jahren war sie Solopianistin in diversen Clubs, meist in Chicago und Milwaukee, machte auch Reisen nach Europa, wo in Paris Platten mit Marcel Branche und Kansas Fields entstanden, und gastierte in Kanada. In den 60er Jahren wirkte sie in Fernsehshows mit, setzte ihre Plattenproduktionen fort, schrieb Arrangements und trat auch immer wieder als Pianistin auf.
Leider haben die Plattenfirmen Lil Armstrong wenig Beachtung geschenkt, in den letzten Jahren scheint man sie ganz vergessen zu haben, obwohl ihr zwingendes, temperamentvolles und anregendes Spiel stets eine gute Resonanz fand. Es ist wohl Mode geworden, von älteren Jazzmusikern nur dann Platten zu pressen, wenn sie mit prähistorischem, technisch recht mangelhaftem und oft zittrigen Spiel zum Bild des guten alten Negers passen, der in seiner Armut, Hilflosigkeit und Naivität so rührend wirkt. Dieser Vorstellung wurde Lil Armstrong als intelligente, selbstsichere Künstlerin freilich nicht gerecht.
Die letzte Platte, auf der Lil Armstrong als Pianistin und Sängerin zu hören ist, erschien vor etwa 10 Jahren in den USA auf dem Verve-Etikett unter dem Motto "Chicago and all that Jazz". Nach einer Probe, die im Rahmen einer Produktion für das NBC-Fernsehen, die innerhalb deren Serie "America's Music" am 30. Oktober 1961 in einem New Yorker TV-Studio stattgefunden hatte, waren die beteiligten Musiker in der Webster Hall in Manhattan zusammengekommen, um nach Jahren erstmals wieder gemeinsam als Gruppe zu musizieren. Es waren der Trompeter Jimmy McPartland, der Tenorsaxophonist Bud Freeman, der Pianist Joe Sullivan, der Gitarrist Eddie Condon und der Schlagzeuger Gene Krupa, die in Chicago am 9. Dezember 1927 die Aufnahmen gemacht haben, die unter dem Namen McKenzie and Condon Chicagoans erschienen sind. Nur waren sie also alle wieder zusammengekommen, nur daß für den damals ebenfalls beteiligten aber verstorbenen Saxophonisten inzwischen Frank Teschemacher, der später zum Condon-Musikerkreis gehörende Klarinettist Pee Wee Russell, und für den Bassisten Jim Lanigan dessen Kollege Bob Haggart - auch er hat schon früher mit Condon-Gruppen gespielt dabei waren. Außerdem nahm an dem 61er Treffen der Posaunist Jack Teagarden teil, der bereits 1928 mit Condons Feetwarmers ins Okeh-Studio gegangen war. Bei dieser denkwürdigen Wiederbegegnung der alten Chicagoans erschien eben auch Lil Hardin und steuerte zwei Solo-Piano-Stücke bei, mischte bei zwei Titeln der Chicagoans auch als Sängerin mit.
Den "Original Boogie" brachte Lil tatsächlich so "original", so authentisch, daß man sich in die Roaring Twenties zurückversetzt fühlte, wenn man sie hört. Sie war hier ganz in ihrem Element und trieb sich stimmlich noch besonders an, wie es viele temperamentvolle Pianisten zu tun pflegen. Aber auch Ihr "Original Rag" wurde durch ihr Einfühlungsvermögen zu einem klassischen Ragtime-Stück, wenngleich mit einer Swing-Betonung und spürbaren Kenntnis späterer JazzStilperioden, die man bei den straight und steif synkopierenden RagtimePianisten der Vor-Jazz-Zeit freilich vermissen muß. Als Sängerin ist Lil in "Take me to the land of jazz" und Chicago" zu hören - gemeinsam mit Blossom Seeley, von der sie sich durch ihre mädchenhafte Stimme deutlich abhebt. Die Platte ist später in Holland nachgepreßt worden und erschien ebenfalls auf Verve-Etikett unter der Nummer MGV 9007 (im USA Original MGV 8441). Diese LP ist aber heute leider ebensowenig auf dem hiesigen Plattenmarkt erhältlich wie das Riverside-Doppelalbum "Chicago - the living legend", das wiederum Aufnahmen von Lil Armstrong aus dem Jahre 1961 enthält, und zwar vom September (mit Trio und Orchester). Mit ihrer Swing Band aus den Jahren 1936 bis 1938 und ihren Dixielanders aus dem Jahre 1940 kann man Lil nur noch auf Sammlerplatten hören (Swingfan)- Schade, daß Lil Hardin-Armstrong, die zu den im Jazz nicht gerade zahlreich vertretenen aktiv musizierenden Frauen gehörte, heute so wenig beachtet wird. Vielen - vor allem denen, die sie kannten - wird sie unvergeßlich bleiben.
Rudolph Hopf †
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen