Montag, 18. Januar 2010


Charles Tyler (1941 - 1992)

von H.Lukas Lindenmaier

Charles Tyler ist am 27.Juni 1992 in Toulon (Frankreich) im Alter von fünfzig Jahren gestorben. Er stand selten in vorderster Reihe der Ereignisse, hat sich auch als Bandleader nicht ins Rampenlicht gedrängt - und dennoch die Klänge vieler Ensembles im zeitgenössischen Jazz maßgeblich mitgestaltet.

Bis 1965 trat Charies Tyler oft mit den Gebrüdern Albert und Don Ayler auf, die er bereits seit Teenager-Zeiten kannte und mit denen er die ersten Platten ("Bells" und "Spirits Rejoice" für ESP) aufnahm. David Baker, als Cellist, Posaunist, Tontechniker und Produzent bekannt, vermittelte Tyler einen Studienplatz im Music Department der lndiana University in Indianapolis. Dort entstanden die zwei ersten Schallplatten unter Charles Tylers eigenem Namen, wiederum für die New Yorker Firma ESP. Nachdem die erste Produktion (ESP-1029), mit den zwei Perkussionisten Shannon Jackson und Charles Moffet in der Rhythmusgruppe, noch dem bekannten Energiespiel und einfachen Motiven der Ayler-Stilistik nahekam, waren die Sounds in "Eastern Man Alone" (ESP-1 059) weit ungewöhnlicher; David Baker spielt neben Tylers Altsaxophon die zweite Lead-Stimme auf dem Cello, während für den Background nur zwei Kontrabässe zuständig sind: Brent McKesson und Kent Brinkley.

Ende der 60er zog Charles Tyler nach Kalifornien, um dort die Hochschultätigkeiten als Student, Tutor und Dozent weiter zu verfolgen. In der Szenerie um den auch kulturpolitisch engagierten Schlagzeuger und Kritiker Stanley Crouch spielte Tyler in vielen Sessions mit Arthur Blythe, David Murray, Wilbur und Lawrence Morris, Bobby Bradford und anderen. Mit dem Ende 1973 erfolgten Umzug nach New York entdeckte Charles Tyler wieder das Baritonsaxophon. Er hatte "dieses elend sperrige Ding" seit der Dienstzeit in der Army-Band, wo er es ausschließlich gespielt hatte, nie mehr aus dem Koffer geholt: das Instrument, mit dessen Sounds er seine bedeutenden Erfolge erreichen sollte.

In New York fand Charles Tyler ebenso wie andere Zuzügler aus Kalifornien bald Anschluß an die damalige Loft-Szene. Neben sporadischen Auftritten in größeren Besetzungen unter der Leitung von Cecil Taylor arbeitete Charles Tyler hauptsächlich in kleinen Gruppen, deren Kern ein Quartett seines Konzeptes war: mit dem Trompeter Earl Cross, dem Schlagzeuger Steve Reid, Ronnie Boykins, David Wertman oder Wilbur Morris am Baß. Mit diesen Gruppen und weiter wechselnden Musikern veröffentlichte Tyler die zwei einzigen Platten auf seinem eigenen "Akba"-Label, eine davon als Ubernahme eines Konzertmitschnittes vom Festival in Umea (Schweden). An einigen Produktionen des von Steve Reid geleiteten, ebenso kurzlebigen Labels "Mustevic" war Tyler ebenfalls beteiligt. Eine der wichtigsten Veröffentlichungen der Tyler-Gruppen jener Zeit ist der auf Nessa-Records veröffentlichte Mitschnitt "Saga of the Outlaws" von einem Quintett-Auftritt in Sam Rivers' Loft-Studio 1976; diese Platte enthält außerdem einen empfehlenswert-informativen Hüllentext von Michael Cuscuna über Charles Tyler. Nach einem auch für Kenner überraschenden Baritonsaxophon-Solo-Auftritt im New Yorker "Soundscape" (auf Adelphi-Records veröffentlicht) kam Charles Tyler 1977 zweimal nach Europa. Im Sommer präsentierte er, auch in Moers, erfolgreich sein eigenes Quartett, im Herbst war er mit John Fischers Gruppe zu hören, die in nicht immer geglückten großeuropäischen Festivalkonzepten "Loft-Sounds" zu vertreten hatten. An der besonderen Klangmischung des Saxophons mit Streichinstrumenten, in "Eastern Man Alone" erstmals erprobt, arbeitete Charles Tyler auch in den 80er Jahren weiter. In seinem Ensemble der Platte "Folk And Mystery Stories" (für Sonet) findet sich wiederum Cellist Dave Baker, zwei Kontrabassisten (Wilbur Morris und John Ore), Steve Reid dazu am Schlagzeug, und der Hornist Richard Dunbar. Weitere, bemerkenswerte Klangkombinationen ergaben sich in der wiederholten Zusammenarbeit mit dem Violonisten Billy Bang, an dessen Gruppensound Charles Tyler über mehrere Jahre beteiligt war; auf zwei Platten für Soul-Note und einer weiteren für OAO-Records ist dies zu hören. Von besonderem Interesse ist ein auf Anima-Records veröffentlichter Konzertmitschnitt von Bang und Tyler im Duo - neben Alt- und Baritonsaxophon spielt Charles Tyler auch Mundharmonika.

In den letzten zehn Jahren hielt sich Charles Tyler vermehrt in Europa auf, spielte mit hier ansässigen Musikern ebenso wie mit seinem Original-Ouartett. "The Definite Charles Tyler" ist der Titel der letzten zwei, 1981 in Stockholm für Storyville aufgenommenen Platten dieser Besetzung mit Earl Cross, Steve Reid, und dem Bassisten Kevin Ross. Nach einigen Konzerten mit Cecil Taylors Orchester arbeitete Charles Tyler 1982 in Chicago mit Hal Russells NRG-Ensemble; auf der außerordentlichen CD "Generation" (Chief-Records) dieser Gruppe spielt Tyler auch Klarinette, das Instrument, mit dem er als Siebenjähriger seine Musikausbildung begonnen hatte.

1985 ließ sich Charles Tyler in Frankreich nieder. Keith Knox, der bereits die Stockholmer Quartettaufnahmen produziert hatte, brachte 1986 in Paris Tylers Bariton und Alt mit dem Sopransaxophon Steve Lacys zusammen, dazu Jean-Jacques Avenel am Baß und Oliver Johnson am Schlagzeug; diese Aufnahmen, wegen der extremen Stimmlagen der Instrumente ebenso wie aufgrund der sehr unterschiedlichen Spielweisen der Saxophonisten besonders effektvoll, sind auf dem Silkheart-Label erschienen. Für dieselbe Firma entstanden 1988 in Stockholm die letzten Aufnahmen von Charles Tyler; er wurde hier von einer schwedischen Rhythmusgruppe, dem Brus-Trio, begleitet.

Charles Tylers Sounds sind in Plattenaufnahmen konserviert, von denen glücklicherweise einige, auch im CD-Format, erhältlich sind. Der Mensch hinter den Klängen lebt weiter in unseren Erinnerungen.

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