Auch diesen Artikel habe ich vor langer Zeit geschrieben. Für irgendeine (welche?) Zeitschrift.
ECM - Eine Hymne an den Klang
Wie
kann man 28 Jahre lang Avantgarde und Jazz ohne Offenbarungseid produzieren und
ohne jeden Monat mindestens einmal den Gerichtsvollzieher vertrösten zu
müssen? Die Antwort ist einfach und
komplex zugleich: Man nehme einen besessenen Produzenten, Studios allererster
Güteklasse, jungfräuliches Vinyl verpackt in Hüllen aus Romantic und Phantasie
und nicht zu vergessen: einige Dutzend hochklassige Musiker. Das Etikett ECM
steht für „European Contemporary Music“, wurde von Beginn an aber nie
engstirnig gehandhabt: Es darf daran erinnert werden, dass ein damals in
München lebender Pianist, der US-Amerikaner Mal Waldron, die heute legendäre ECM 1001 bespielt hat -
eine LP, deren Originalausgabe im Klappcover mit den beiliegenden Notenblätten
heute als echte Rarität angesehen bzw. angehört werden kann. Manfred Scheffner
und sein Versand „Jazz by post“ fungierte in der Anfangszeit in Personalunion
gleichermaßen als Produzent und Vertrieb.
DER PRODUZENT
Nach
über 500 LP’s und CD’s darf der Name des Initiators und Fast-Allein-Produzenten
Manfred Eicher - selbst kurzfristig als Bassist in des Scene des Freien Jazz in
Bayern und Umgebung aktiv - im Jahre 1997 getrost in eine Reihe mit Alfred Lion
von Blue Note, Norman Granz von Verve, Orin Keepnews von Riverside/Jazzland
oder Lester Koenig von Contemporary gesetzt werden. Trotz aller Anfeindungen
der „wahren“ Jazzfreaks, die ihn mit dem Vorwurf, dem reinen Schönklang zu huldigen,
bombadierten und kritisierten, dass die Musiker in gleicher Besetzung unter
verschiedenen Leadern immer wieder in die Studios geholt wurden (hat das Blue
Note oder andere Label nicht ebenso gemacht???) konnte niemand aus der
internationalen Kritikerzunft seinem Image nennenswerte Kratzer verpassen. Der
Erfolg Keith Jarretts als Solo-Pianist ist sicher mit ein Verdienst von Manfred
Eicher und Jan Garbarek würde ohne ihn vielleicht immer noch in der
norwegischen Rundfunkband oder in der Big Band von George Russell spielen. Der
langfristige Erfolg eines Jazz-Musik-Produzenten besteht auch daraus, für die
Anhänger des Modern Jazz Futter zu liefern, und es waren beileibe keine
Brosamen, die ihnen vorgeworfen wurden: Dave Holland’s „Conference of the
birds“ oder „Nice guys“ mit dem Art Ensemble of Chicago sollen und können nur
stellvertretend genannt werden. Diese trugen sicher nicht zum wirtschaftlich
gesunden Fundament bei, dazu war das „Köln-Concert“ von Keith Jarrett oder
Chick Corea’s „Return to forever“ sicher einträglicher. Eine geschickte Wahl
des weltweiten Vertriebes sind unabdingliche Vorraussetzung - das gesamte
Repertoire ständig abrufbereit zu halten, wird als Selbstverständlichkeit vom
potentiellen Käufer erwartet. Dass war und ist für die Münchener Firma immer
eine Selbstverständlichkeit. Zu einem Produzentenkonzept gehört neben
unbedingtem Überzeugtsein auch dickköpfige Sturrheit, neben der langjährigen
Freundschaft mit Musikern auch knallhartes finanzielles Kalkül - mit allem ist
Manfred Eicher anscheinend gut ausgestattet. Die Fähigkeit, sich offene Ohren
auf für ungewöhnliche Klänge bewahrt zu haben, hat zur Produktion einer neuen
Serie, „The New Serie“ genannt, geführt. Meredith Monk, Arvo Pärt oder Keith
Jarrett mit Mozarts Klavierkonzerten, das Hillard Ensemble erweitern das
Spektrum des Labels und weisen in das 21.Jahrhundert.
DIE STUDIOS
Die
Aufnahmetechnik in den Studios, in denen der Löwenanteil der
ECM-Aufnahmesitzungen stattfanden und -finden, scheint geradezu prädestiniert
dazu, den Sound, der manchmal abwertend „Next-to-silence“ genannt wurde, zu
konservieren. Es spielt dabei keine Rolle, ob analog oder digitale Technik
verwendet wird; bezeichnenderweise ist der Übergang von LP auf CD von kaum
einen anderen Label so ohne Schwierigkeiten gemeistert worden wie bei diesem.
Das Osloer Arne Bendiksen/Talent Studio/Rainbow Studio und das Tonstudio Bauer
in Ludwigsburg sind zudem in der glücklichen Situation, mit Jan Erik Kongshaug
und Martin Wieland, Toningenieure mit guten Ohren, Enthusiasmus und
Bodenständigkeit verpflichtet zu haben. Kennzeichend, dass auf die Anfrage nach
audiophilen LP’s, der Vertrieb sagt: „Alle unsere Platten sind immer schon
audiophil gewesen und unser Vinyl immer schon ausschließlich aus neuem
Bestand.“ Die unendlichen Klangräume der folkgeprägten Garbarekschen Tenor- und
Sopranstimme wären ohne die (hier besonders die Osloer) ECM-Studios nicht in
Japan und nicht in den USA hörbar gemacht worden.
DIE COVER
Es
gibt einige wenige Bücher mit Abbildungen von Jazzplatten-covern: Blue Note,
David Stone Martin, West-Coast und East-Coast fallen mir ein. Das ECM-Buch
„Sleeves of desire“ sollte man/frau sich dazu stellen, denn kaum jemand wird
seine Sammlerwut so weit getrieben haben, alle ECM-Platten zu kaufen. So können
wenigstens die Hüllen optisch genossen werden. Jeder Designer, der in den
letzen 50 Jahren, Dinge des täglichen Gebrauchs entworfen hat, wird dieses
Kultbuch bewundern. Das Geheimnis der im wahren Sinne des Wortes
„phantastischen“ Cover liegt in der Vielfalt, egal ob Fotos, Graphik, Malerei
oder Schriftkunst verwendet wurde, der Abstimmung zur veröffentlichten Musik
und dem Wiedererkennungseffekt als „eindeutig ECM“. Das Konzept der hörbaren
Landschaft, vom Ehepaar Wojirsch und Dieter Rehm graphisch umgesetzt, macht die
Identifizierung einfach und der Vorwurf, das Auswahlkriterium sei nur die reine
Schönheit fällt in sich zusammen - angesichts des Erfolgs dieser Art von
Gebrauchsgraphik.. Schließlich darf nicht vergessen werden: eine Plattenhülle
ist lediglich die Tüte für das Hauptprodukt: die Musik. Zu Recht nennt Manfred
Sack (Die Zeit) das Coverbuch „ein kulturelles Wunder in einer profitgierigen
Welt“.
DIE MUSIKER
Von
dem hin und wieder zu hörenden Vorwurf, auf ECM gäbe es nur immer die selben
Musiker mit immer derselben Musik zu hören, möchte ich den Produzenten freisprechen:
Die stilistische, instrumentale und geographische Bandbreite ist bei weitem
größer als bei jedem anderen Plattenlabel aus Vergangenheit und Gegenwart.
Kritisch gehört, haben sowohl Blue Note als auch Verve, sowohl Enja als auch
Hat Art, das Spektrum ihrer Produkte viel enger eingegrenzt. Dies gilt
zumindest dann, wenn bestimmte Zeiträume eingeklammert werden. ECM hat neben
Chick Corea’s Solo Piano seine Gruppe „Circle“ veröffentlicht, hat
gleichermaßen Keith Jarrett’s Quartetaufnahmen vorgestellt wie seine „Sun Bear“
Konzerte. Die Welten, die zwischen dem Trio von Jimmy Giuffre und den Soli von
Egberto Gismonti, zwischen Eberhard Weber’s Colours und den Urban Bushmen vom
Art Ensemble of Chicago liegen, waren für ECM ohne Bedeutung. Ein Fakt, den
leider nicht immer alle HörerInnen akzeptiert haben. Von diesen können leider
nur wenige die Ohren neugierig geöffnet hochgestellt halten, wenn nach „The
Windup“ von Keith Jarrett oder „Devine love“ von Leo Smith das Hillard Ensemble
einen akustischen Ausflug ins 17. und 18. Jahrhundert anbietet.
Zu
wünschen ist, dass die nächsten 600 Produktionen in den vor uns liegenden 28
Jahren auf kalkarme Ohren und Arterien treffen und dass Manfred Eicher nicht
den Mut und die Kraft verliert, dem Kulturgut Jazz eine Plattform zu bieten, ob
auf LP, CD oder XYZ.
Dr.Michael
Frohne
ECM
1437
rec.
12.1990 Oslo,N
Nils
Petter Molvaer tp / Tore Brunborg ts,ts / Arild Andersen b / Jon Christensen
dr,perc
Re-enter
/ Lill’ Lisa / Heiemo - Gardsjenta / Gaia / Little song / There is no jungle in
Baltimore / Find another animal / Stykkevis og delt
prod.
Manfred Eicher
55min
Bei
den über 400 Tonträgern, die bis zum Jahr 1990 bereits von ECM veröffentlicht
waren, darf man/frau ohne schlechtes Gewissen gestehen, die Gruppe „Masqualero“
zugunsten eines besser bekannten Musikers im Neuheitenfach stehen gelassen zu
haben. Wie gut, dass die Repertoirepflege bei der Firma einen so hohen
Stellenwert hat, und die LP auch 7 Jahre nach Erscheinen greifbar ist. Die
Unisono-Linien des Trompeter und Saxophonisten und die Betonung durch den
Bassisten jenseits des erwarteten Beats, lassen an das Ornette Coleman Quartet
aus den 50 Jahren erinnern, dies als Kompliment gemeint, weil die beiden Bläser
sich vom Vorbild lösen, ohne Ängste auch 2 Themen aus der traditionellen
norwegischen Volksmusik verarbeiten und der Schlagzeuger die Akzentuierung
eines Ed Blackwell perfekt beherrscht. Dem kommt die durchsichtige Abmischung
entgegen, die Pressung ist wie gewohnt ohne Fehl und Tadel. Eine echte
Entdeckung für mich - vielleicht auch für andere?
Hal Russell / NRG Ensemble The Finnish/Swiss Tour
ECM
1455
rec.
11.1980 Tampere/Zürich
Hal
Russell ts,ss,tp,vib,dr / Mars Williams ts,ss,didgeridoo / Brian Sandstrom
b,tp,g / Kent Kessler b,b-g,didgeridoo / Steve Hunt dr,vib,didgeridoo
Monica’s
having a baby / Aila - 35 Basic / Temporarily / Raining violets / For MC /
Dance of the spider people / Ten letters of love / Hal the weenie / Linda’s
rock vamp / Mars theme
prod.
Steve Lake
64min
Warum
soll nicht jemand mit 50 Jahren Saxophon zu spielen lernen können? Wenn er dann
20 Jahre übt, kann er sehr wohl mit 70 bei ECM eine LP einspielen. Als
Schlagzeuger war Hal Russell in der ersten Free Jazz Gruppe Chicagos, dem Joe
Daley Trio, bevor er 1969 sein erstes NRG Ensemble gründete. Die erste
Europatournee im Winter 1990 bestand aus 6 Konzerten in der Nähe des
Polarkreises und einem beim Züricher Festival. Albert Ayler läßt grüssen, der
Humor, der dem Quintet und seiner Ausdrucksstärke gut tut, ist hinzugekommen.
Die Themen sind unwichtig, was im Kopf passiert und wohin sie während der
Improvisation tragen, das zählt. Insgesamt eine der abwechslungsreichsten LP’s
der letzten Jahre. Lassen Sie sich von den kurzen freien Passagen, die Freude
an der Entdeckung einimpfen: Warum nicht dem Optimismus und dem Abenteuer
nachgeben.Gehen Sie in die Konzerte, hören Sie die Konserve mit großer
Lautstärke. Ein echter Genuß, auch wenn die Aufnahmetechnik nicht dem gewohnt
hohen ECM Niveau entspricht. Folgen Sie dem NRG Ensemble frei nach William
Blake: "Energy is eternal delight".
Jan Garbarek Star
ECM
1444
rec.
1.1991 Oslo
Jan
Garbarek ss,ts / Miroslav Vitous b / Peter Erskine dr
Star
/ Jumper / Lamenting / Anthem / Roses for you / Clouds in the mountain /
Snowman / The music of my people
prod.
Manfred Eicher
42min
Ich
muss gestehen, dass zwischen „Afric Pepperbird“ aus dem Jahr 1970 und
„Wichi-tai-to“ von 1973 und einigen wenigen Konzertbesuchen bis 1997 der Name
von Jan Garbarek in meinem Gehirn eher ohne Assoziationsketten, ohne Neugierde
zu wecken, gelegen ist. Sicher veröffentlichte ECM jedes Jahr die schon beinahe
obligatorische Klangraum-LP oder -CD, sicher war jedes Jahr mindestens eine
Tournee, viele Festivalauftritte angesagt. Aber nur schön? Wer will das schon
hören? „Star“ von 1991 ist da fast eine Bestätigung. Wären da nicht der
Schlagzeuger Peter Erskine und der Bassist Miroslav Vitous, die den Absturz in
die Beliebkeit verhindern! Der Klang ist
sauber, einfühlsam und gibt die Assoziation der weiten Landschaft ohne
Hochspannungsleitungen weiter. Die Pressqualität ist vorbildlich, die LP
verführt dazu, den Sonntagabend im Sessel ohne TV mit Rotwein träumend zu
verbringen. Da erwartet man vielleicht auch gar nicht , dass musikalisches
Neuland gesucht und betreten wird.
Kenny Wheeler Music for large & small ensembles
ECM
1415/16
rec. 1/2. 1990 Oslo/London
Kenny
Wheeler flh,tp / John Abercrombie g / John Taylor p / Dave Holland b / Peter
Erskine dr /Norma Winstone voc / Derek Watkins tp / Henry Lowther tp / Alan
Downey tp / Ian Hamer tp / Dave Horler tb / Chris Pyne tb / Paul Rutherford tb
/ Hugh Fraser tb / Ray Warleigh as / Duncan Lamont ts / Evan Parker ss,ts /
Stan Sulzmann ts,fl / Julian Arguelles bs
The
Sweet time suite / Sophie / Sea lady / Gentle piece / Trio / Duet I / Duet II /
Duet III / Trio / By myself
prod.
Manfred Eicher
103
min
Die
LP's von Kenny Wheeler sind nie von agressiven Tönen beherrscht. Diese
Feststellung schließt diese Doppel-LP ein. Der in England lebende Kanadier, der
dem Flügelhorn als Hauptinstrument den Vorzug vor der Trompete gibt, hat die
junge und alte Avantgarde um sich versammelt und von der Grossformation bis zum
Duo um sich gruppiert. Er ist aber beileibe nicht der musikalische Guru, das
verbietet auch die Eigenständigkeit der Kollegen/Kolleginnen. Das Rohmaterial
wird von ihm geliefert, hier und da Akzente gesetzt. Ansonsten ist blindes
Verständnis pure Selbstverständlichkeit. Zu entdecken gibt es besinnliche
Klangwelten, erfahrbare Kommunikation und rhythmische Abwechslung. Die Suite in
der orchestralen Besetzung beweist, wie wichtig mutige Produzenten sind: Obwohl
Kenny Wheeler seit mehr als 30 Jahren für Großformationen schreibt, sind ganze
3 Stücke veröffentlicht worden: die beiden anderen, "Windmill Tilter"
und "Song for Someone" seit Jahren als LP vergriffen und als CD nicht
erschienen. Die jährlichen BBC-Produktionen böten da reiche Betätigungsfelder.
Zum
Sound: Wenig Nachhall läßt den Klang unmittelbarer wirken, was den kleinen
Formationen und der grossen Besetzung gleichermassen zugute kommt. Das Booklet
mit dem Text von Steve Lake beschreibt en detail den Aufbau der einzelnen Teile
der Suite.
Eine
Fortsetzung, was den subitlen Kammerjazz betrifft, erwarte ich von Kenny
Wheeler's neuer ECM-Produktion "Angel song" mit Lee Konitz, Bill
Frisell und Dave Holland. Aber das ist ein neues Kapitel.
Kenny
Wheeler hat in einem NBC-Fernsehinterview geäussert, er wolle spielen, bis ihm
die Zähne aus dem Mund fallen würden. Hoffen wir, dass das noch lange nicht
passiert oder er mit einer guten Prothese weiterspielen kann.
alle Besprechungen Dr.Michael Frohne