Montag, 18. Januar 2010

VOLLE KATALOGE - LEERE REGALE

Über die Qualen beim Jazzplattenkauf

"Was, Du hast die neue Steve Lacy auf Owl noch nicht?" - "Easy living" von Ike Quebec hat aber zwei zusätzliche Titel auf der CD !" - "Jazz haben wir nur hinten in der Ecke, können wir bestellen, wissen Sie die Firma und die Nummer ?"

20 Jahre höre ich jetzt Jazz - wenn es die Zeit zuläßt, mehrere Stunden am Tag. Ebenso lange kaufe ich Platten,in kleinen Läden, in Supermärkten, im Versandhandel, bei Auktionen und auf Flohmärkten. Ich muß feststellen: Es gab in der BRD noch nie so viele Jazz-Platten der diversen Stilrichtungen zu kaufen wie heute - noch nie war die Präsentation von Jazz aber auch so schlecht wie heute. Und da meine ich in erster Linie die großen und kleinen Läden von Berlin bis Düsseldorf, von Flensburg bis Oberstdorf.

Der jährlich erscheinende Bielefelder Jazzkatalog, der im Umfang das 10- oder 20fache früherer Jahre angenommen hat,Importgroßhändler wie Mikulski,EMI-ASD,TIS,ARIS,Polygram oder Intercord und IMS haben volle Regale und lange Computerlisten bzw. dicke Kataloge mit Labeln wie Pablo, Prestige, Blue Note, Vogue, Savoy oder Emarcy. Nicht zu vergessen Bellaphon mit einem Riesenangebot von Concord über Soul Note bis hin zu Paddle Wheel.

Jahrelang gesuchte Scheiben finden sich da plötzlich - fein und säuberlich aufgelistet, oft mit Original-Cover und sogar Original-Nummer, damit man/frau mit seinen/ihrem schon vorhandenen leicht vergleichen kann.Dazu kommen Ergänzungen - so bei Blue Note - längst historisch gewordene Mitschnitte - so bei Pablo oder Delta-Musik und manchmal auch Neuproduktionen - seltener, weil Studiokosten heute hoch sind, wie bei BlackSaint oder Owl. (sind Alles nur Beispiele, die beliebig verlängert oder ersetzt werden können.)

Nebenan in den Katalogen von Versandgeschäften finden sich dann noch in ungeheurer Zahl "Indipendents" - die Übernahme des Begriffes aus der Pop-Scene sei gestattet - teilweise auch schon mit Fremd-Distribution, wenn sie größer sind - wie HatArt aus der Schweiz, Owl aus Frankreich oder Enja und ECM, mit Produzenten, die in der Jazzscene berühmt geworden sind. Die wahren Enthusiasten sind dann die, die Produzent, Vertreiber,Finanzierer/in, Werbegraphiker, Sekretärin und Freund der Musiker in einer Person sind. Die Stückzahlen ihrer Pressungen entziehen sich meiner Kenntnis, aber zu bewundern sind Leute wie Pedro deFreitas von Sound Aspects, Vera Brandes von Intuition Records oder Leo Feigin, die ja oft Trendsetter sind, Produktionen von Musikern veröffentlichen, lange bevor diese dann relativ hochdotierte Verträge von Columbia oder Warner Brothers angeboten bekommen.

Und dann gibt es noch die Platten, die es nicht gibt. Gemeint sind dabei nicht bootlegs (ein Begriff, der in der Jazzscene ein andere Bedeutung als in der Popscene hat), sondern Produktionen, die in den Katalogen überhaupt nicht auftauchen. Dazu gehören z.B. Mosaic-Records, liebevoll und fachkundig zusammengestellt von Michael Cuscuna. Oder "Mingus in Monterey" von Frederick Cohen und Sue Mingus produziert. Oft sind dieses mehr-Platten-Boxen in limitierter Auflage.

Von CD's war noch gar nicht die Rede: Darauf oft zusätzliche Titel - siehe Frage am Anfang - inzwischen wegen Überkapazitäten der Firmen erschwinglich geworden. Vieles erscheint doppelt, als LP und CD.Die Gerüchteküche besagt, in Japan erscheinen schon überhaupt keine Platten mehr.

Daß Alles hört sich erfreulich an, wenn der Geldbeutel entsprechend dick ist, ein Erbonkel, mit entsprechender Kohle versteht sich, gestorben ist oder auf die überflüssige Aufnahme von Nahrungsmitteln in Form von Brot und Käse verzichtet werden kann.

Betritt man ein Plattengeschäft mittleren Umfangs in einer mittleren Großstadt und fragt nach John Carter, Kenny Burrell oder Kahil ElZabar oder nach so "unbekannten" Trompetern wie Clifford Brown, Booker Little, ganz zu schweigen von Franz Koglmann oder Louis Smith wird man in den meisten Fällen vom sogenanten Fachpersonal - das nur selten eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann oder -frau hat und bestenfalls Miles Davis oder Dexter Gordon und Louis Armstrong unter Jazz einordnen kann, mitleidig von oben bis unten angesehen. Dann gibt es mehrere Variationen:

1. gemeinsames Eilen zu mehr oder weniger großen Trögen, auf denen sich mit Filzschreibern Eintragungen wie "Jazz A-B" oder "Armstrong" oder "Big Bands" finden. Ergebnis: Platte nicht da, soll ich bestellen? dauert aber 3 Wochen.

2. sofortiges Blättern im Bielefelder oder in den Computerlisten, wenn die Angestellten wissen, daß die Musikernamen ihnen noch nie begegnet sind.

3. "Früher war hier mal ein Verkäufer, der kannte sich mit so was aus, jetzt haben wir Jattzz nicht mehr !"

Die merkwürdige Diskrepanz zwischen langen und dicken Katalogen und leeren Regalen und Trögen gepaart mit oft weißbekitteltem Aushilfspersonal hat meiner Ansicht nach verschiedene Ursachen. Die Lagerhaltung bindet den Eigentümern Kapital und kostet Platz. Geld haben sie sowieso keins - sagen sie - und mehr Platz bedeutet mehr Miete bzw. weniger Platz für Michael Jackson, Dire straits oder James Last (habe ich die Richtigen herausgegriffen ?) Jazz hat sich noch nie in Riesenstückzahlen in Zeiträumen von 3 Wochen umgeschlagen, auch wenn Michel Petrucciani von seiner neuen LP angeblich bereits 25000 allein in den USA verkauft hat - besser sollte ich da wohl die Firma anführen, die die Platte vertreibt. Damit sind wir bei den Vertretern der Firmen: Leider sind diese nicht in der Lage, wohl auch weil sie nicht geschult werden, die Plattenläden mit Informationen über die neueste Sonny Criss, Art Blakey oder Anthony Braxton zu versorgen. Warum haben sie in ihren Handkoffern nicht eine CD von HatArt oder Soul Note ? Dann könnte sich das Personal in einer stillen Stunde am Montag-vormittag das doch mal anhören und anschließend die Kunden darüber informieren.

Es gibt selbstverständlich gute Fachgeschäfte mit gutem Personal und großem Repertoire (ich verlange nicht, daß sämtliche 6o Lee Konitz LP's da stehen und auch nicht alle Fresh Sound !) - aber die sind sehr dünn gesät. (Bitte keine Werbung !) Es gibt sie durchaus nicht nur in München, Köln oder Berlin.

Einige Anregungen, wie Verbesserungen erreicht werden können: Um mit den großen Plattenfirmen und dem Importhandel anzufangen, kann man anregen, die Vertreter besser über Jazz-Neuerscheinungen zu informieren, mit ausgewählten Beispielen regelmäßig in die Läden zu schicken. Die Eigentümer der Läden sollten nicht nur den Umsatz mit der neuesten Prince-Platte in den letzten zwei Wochen sehen, sondern auch die Verkaufszahlen von Candid oder Dexter Gordon in den letzten 3 Jahren. Und in den Anzeigen in den Tageszeitungen in der Provinz sollte durchaus unter den Sonderangeboten Rahsaan Roland Kirk erscheinen. Von dem es zur Zeit übrigens fast alle Atlantic-Platten zu kaufen geben sollte. Der Bestellservice ist schön und gut, ich jedenfalls habe bei mir gemerkt, daß ich die Platte bzw. CD lieber in der Hand halte und mir den Kauf überlegen will, statt dem Verkäufer eine ISBN-Nummer zu bringen, meist auch noch mit einer Anzahlung.

Eine kleine Anregung für Jazzthetik am Ende: Wie wäre es mit einer Untersuchung durch das Redaktionsteam über den Zustand des Jazz-Repertoires und das Verhalten von den Angestellten in diversen Plattenläden der BRD ?

Michael Frohne (mehrfach in diversen Zeitschriften der 1990'iger Jahre veröffentlicht, heute in mancher Hinsicht überholt, trotzdem finde ich den Artikel immer noch lesenswert).

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